Die Dohlen auf dem Kamenzer Kirchturm
Zwei Chorjungen stiegen nach einem Begräbnis auf dem Kamenzer Kirchturm. Sie trugen ihre weiten, schwarzen Chormäntel und wollten die Dohlennester ausnehmen, die in dem alten Gemäuer versteckt waren.
Als die Knaben oben an ein kleines Fenster kamen, hörten sie schon das Kreischen der Vögel und überlegten, wie sie zu den Niststätten gelangen konnten. An der Wand lehnte ein Brett. Das nahmen sie und steckten es zur Hälfte zum Fenster hinaus.
Nun musste der Junge das Brett halten, und der andere drängte sich durch die schmale Öffnung aus dem Turme. Er stand auf dem Brette und schwebte zwischen Himmel und Erde.
Bald entdeckte er in einem Loche ein schönes Dohlennest. Darin lagen fünf junge Dohlen, die laut schrien, als sie der Knabe herausnehmen wollte. Der Junge, der drinstand, und das Brett mit aller Gewalt herunterdrücken musste, hörte das Gekreisch und rief zum Fenster hinaus: „Wieviel Dohlen sind im Nest?“
Da antwortete sein Kamerad von draußen: „Es sind fünf, da bekommst du zwei davon!“ Aber der drinnen stand, war damit nicht zufrieden und wollte drei Dohlen haben. Es entstand ein böser Streit, bei dem die Jungen alles vergaßen.
„Ich lasse dich fallen, wenn du mir nicht drei Dohlen gibst!“ schrie der Knabe im Turme. Aber der andere beharrte auf seinen Willen und ließ sich nicht überreden.
Plötzlich schnellte das Brett in die Tiefe, und der Chorknabe, der am äußeren Ende stand, stürzte schreiend hinunter.
Es war ein Glück, dass er den großen Chormantel anhatte; denn je tiefer er fiel, desto mehr breitete sich der Mantel aus.
Der Knabe schwebte wie mit einem Fallschirm über das Herrental bis hinüber an den Fuß des Gickelsberges.