Das Kamenzer Forstfest
Die Hussiten kamen auch vor die Stadt Kamenz und wollten sie erstürmen. Draußen im Forst schlugen sie ihr festes Lager auf und ließen den Kamenzer Bürgern sagen: „Öffnet die Tore der Stadt und zahlt Lösegeld, sonst werden wir eure Stadt dem Erdboden gleich machen und weder Greise noch Kinder verschonen!“ Über diese Nachricht erschraken die Kamenzer gewaltig; denn jeder kannte die Hussiten. Sie hatten schon manche feste Stadt und Burg erstürmt und dabei erwiesen, dass ihnen keine Mauer zu hoch und kein Turm zu fest war. Überall waren ihre wilden Kriegshorden siegreich vorwärtsgedrungen und hatten ohne alles Erbarmen geplündert, gebrannt und gemordet. Die Kamenzer suchten ihre Gold- und Silberschätze hervor. Als man zählte, waren es bei weitem nicht so viel, wie die raubgierigen Hussiten verlangten. Die Sorge der armen Bürgersleute war groß, und niemand wusste, was werden sollte. Da befahl ihnen der Meister der Schule, sie sollten ihren Kindern lange, weiße Sterbehemden anziehen und die Knaben und Mädchen also gekleidet nach dem Marktplatze schicken. Dort ordneten sie sich zu einem langen Zuge und wurden vom Schulmeister die Straße hinuntergeführt. Unter dem Gesange frommer Lieder zogen sie zum Budissiner Tore hinaus. Weinend sahen die Mütter und Väter dem traurigen Zuge nach.
Als die Kinder vor das feindliche Lager kamen, sangen sie den Choral: „Du Friedensfürst, Herr Jesu Christ...“ und fielen flehend vor dem Anführer der Hussiten nieder. Der raue Kriegsmann wusste nicht, wie ihm geschah. Als er die unschuldigen Kinder sah und ihre wehmütigen Gesänge hörte, wurde er gerührt und versprach, die Stadt zu verschonen. Am nächsten Tag zog er mit seinem Heer von Kamenz fort, ohne der Stadt irgendein Leid anzutun.
Aus Freude und Dankbarkeit über diese Begebenheit schenkte ein reicher Kamenzer Bürger den Forst, der ihm damals gehörte, dem Kloster. Bei der Schenkung machte er sich aus, dass die Kamenzer Schule alljährlich in der Bartholomäuswoche draußen im Forste ein Fest abhalten dürfe. Das Kloster musste das Holz zu den Freudenfeuern liefern, die von der Schuljugend abgebrannt wurden. Auch war das Kloster gezwungen, die Hütten für das junge Volk zu stellen und zu errichten.
Seitdem wird das Kamenzer Forstfest in jedem Jahre in der Bartholomäuswoche begangen. Die Kinder Schulkinder ziehen in weißen Kleidern mit ihren Lehrern hinaus in den Forst, wo das Hussitenlager gewesen sein soll. Dort spielen und schießen sie unter den schönen grünen Laubbäumen. Viele Erwachsene sehen zu und freuen sich an den glücklichen Kindergesichtern.
Eine andere Auffassung bringt das Forstfest in Verbindung mit den Prozessionen, die in früheren Zeiten von den Schulen an bestimmten Tagen des Jahres veranstaltet wurden. Die Schuljugend zog mit ihren Lehrern unter dem Gesange von Chorälen zu den einzelnen Kapellen. Auch im Forste soll eine solche Kapelle gewesen sein. Neben ihr befand sich der Schülerborn, an dem die Schüler bei ihren Prozessionsgängen Rast machten, um sich an dem kühlen Wasser zu erfrischen. Im Kloster und an anderen katholischen orten treffen wir noch heute eine ähnliche Sitte an. Dort reiten die Osterreiter am ersten Osterfeiertage unter dem Gesang frommer Lieder durch die Felder von Ort zu Ort, und eine andere Prozession zieht um die saatgrünen Fluren.
Es gab verschiedene Anlässe für die Prozessionen. Im Jahre 1520 ordnete in Kamenz der Rat der Stadt eine solche an, weil es nach Fronleichnam nicht geregnet hatte. Die junge Saat und die Wiesen drohten zu verdorren, so dass den Leuten angst und bange wurde. Da zogen Schüler und viele Jungfrauen barfuß und in weißen Kitteln von Kapelle zu Kapelle, beteten und sangen Choräle. Auf dem Kopfe trugen sie ein Kränzlein von Wermut und in der Hand einen Rosenkranz. Zuerst pilgerten sie nach der St, Jost Kapelle. Am Dienstag darauf zogen 315 Jungfrauen zur St. Anna-Kapelle der hl. Wendelspurgis. Dann wurde an den Kapellen der hl. Magdalena im Spital, des St. Jakob im Heimwege und des St. Wolfgang rechts am Graben vor dem Budissiner Tore andächtig gebetet und gesungen. Endlich hatte der Himmel ein Einsehen. Er überzog sich mit dunklen Wolken, und bald strömte der erlösende Regen hernieder, der Pflanzen, Tiere und Menschen erquickte und sie vor großer Not verschonte.